Die antiken Philosophen hatten für das, was wir heute psychische Gesundheit (mental health) nennen, eine Reihe von Entsprechungen. Da spielen Begriffe wie Apatheia (die von Gefühlen ungestörte Gelassenheit), Euthymia (die Seele, die mit sich im Einklang ist), Ataraxía (die Meeresstille des Gemüts), Galene (die von Verwirrungen und Unruhe befreite, in sich erfüllte Seele) und auch Eudaimonía (Wohlfluss des Lebens) eine zentrale Rolle. Die diversen Seelenzustände wurden dabei häufig mit dem Anblick des Meeres verglichen, wobei das sturmgepeitschte Meer mit dem Zustand der Erregung, des Schmerzes und Unglücks, die sanfte Wellenbewegung mit einem Übergangszustand zwischen einem widernatürlichen und einem natürlichen Zustand und die absolut ruhige See mit der vollkommenen Seelenruhe gleichgesetzt wurde.
„Wie man die Ruhe des Meeres daran erkennt, dass nicht der kleinste Lufthauch die Fluten bewegt, so sieht man den ruhigen und friedlichen Zustand der Seele daran, dass keine Leidenschaft da ist, die ihn zu stören vermag.“(2)
Die Selbsterforschung
Der Überlieferung zufolge soll sich am Eingang des Apollontempels in Delphi die Inschrift „Erkenne dich selbst“ (gnôthi seautón) befunden haben. Die damit zum Ausdruck gebrachte Aufforderung, sich bei der Bewältigung der eigenen Probleme nicht in bloße Äußerlichkeiten zu verlieren, sondern sich zuerst mit seiner „Innenwelt“ zu beschäftigen, soll angeblich von einem der legendären „Sieben Weisen“ von Griechenland stammen. Ursprünglich ging es wohl nur darum, darauf hinzuweisen, dass die Menschen - anders als die Götter - sterblich, unvollkommen und begrenzt sind. Später wollte man dann den Besucher des Heiligtums dazu ermuntern, sich mit dem Phänomen seines Menschseins an sich zu beschäftigen und dieses geistig zu durchdringen. Erstmals belegt ist dieser Gedanke bei Heraklit (ca. 520 - ca. 460 v. Chr.), der feststellte, dass „allen Menschen zuteil ist, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.“ (DK 22 B 116.)
„Ein ungeprüftes Leben ist für einen Menschen nicht lebenswert.“ (3)
Später hat sich dann Sokrates (469 - 399 v. Chr.), für den stets die Sorge um die Seele (epiméleia tēs psychēs) im Vordergrund seines Denkens und Handelns stand, dieses Motto zu eigen gemacht. Seiner Ansicht nach sollte man sich - wann immer dies möglich ist - darum bemühen, seine eigene Seele zu erforschen. Der Gedanke dahinter: Indem man sich intensiv mit der eigenen Person auseinandersetzt, kann man je nach Situation auf geeignete Strategien zurückgreifen, wenn man sein eigenes Wohlbefinden verbessern möchte. Bis heute hat sich (hoffentlich) der Gedanke durchgesetzt, dass jeder Mensch mit einem Potenzial an Entwicklungsmöglichkeiten ausgestattet ist, das er in Auseinandersetzung mit sich selbst identifizieren und realisieren kann. Erst die dazu notwendige Selbsterforschung bzw. der innere Dialog zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten (wie es einige psychotherapeutischen Schulen ausdrücken würden) ermöglicht uns ja, unsere Freiheitsspielräume eigenverantwortlich zu gestalten.
Das Maßhalten
Die Forderung, immer das rechte Maß im Auge zu haben, beeinflusste das gesamte griechische Denken von der Philosophie als Lebenskunst bis zur Mathematik, Musik und auch Medizin. Wie wichtig den alten Griechen das Gleichmaß und die Harmonie für das Gelingen des Lebens war, lässt sich unter anderem auch daran erkennen, dass sich beim Eingang zum eben erst erwähnten Apollontempel in Delphi auch eine zweite Inschrift befunden haben soll. Sie lautete: „Nichts im Übermaß“ (Mēdén ágan). Demokrit (ca. 460 - ca. 370 v. Chr.) war der festen Meinung, dass ein „Maßhalten im Vergnügen“ und eine „gleichmäßige Lebensführung“ zu einer „frohmütigen Gelassenheit“ führe, indem diese Tugenden die „Fluchgeister“ wie Neid, Hass und Eifersucht vertreibe und zu einem ausgeglichenen Zustand der Seele führe. Für das Ideal eines durch Maß und Symmetrie harmonisch geregelten Lebens prägte er den Begriff „Wohlgemutheit“ (Euthymie).
„Wohlgemutheit erringen sich die Menschen durch Mäßigung der Lust und Harmonie des Lebens.“ (4)
Damit verdammte er die leiblichen Genüsse nicht, er hielt sie in begrenztem Maße sogar für nützlich. Er war nur der festen Überzeugung, dass diese, da sie ja nur von kurzer Dauer sind, auch nur einen begrenzten Wert haben. Daraus folgert er, man solle nicht bedenkenlos jeder Verlockung nachgeben, sondern sich durch den Einsatz der Willenskraft genau aussuchen, was man sich tatsächlich gönnen soll, und was nicht.
„Nicht jede Lust, sondern die Lust am Schönen soll man erstreben.“ (5)
Der von seinen Zeitgenossen als „lachender Philosoph“ bezeichnete Demokrit rät dazu, „auf das Mögliche seinen Sinn“ zu richten und „sich mit dem Gegebenen zu begnügen“. Auch soll man „nicht viel Aufhebens von denjenigen machen, die Neid und Bewunderung hervorrufen, noch sich in Gedanken mit ihnen abgeben, vielmehr auf die den Blick richten, die im Elend leben, und sich vergegenwärtigen, wie sehr sie leiden, damit das, was man besitzt und worüber man verfügt, groß und erstrebenswert erscheine.“(5) Den Stoikern galt ebenfalls das Maßhalten als Richtschnur zur Gestaltung ihres Lebens. Ihnen war sehr bewusst, dass man bei allem, was man tut, das richtige Maß im Auge haben muss. Übertreibung in jeder Hinsicht ist zu vermeiden. Eine Ausgeglichenheit der Seele kann es nämlich laut Seneca (ca. 1 - 65 n. Chr.) nur geben, „wenn die Begierden nicht vollständig unterdrückt werden und Zeiten der Anspannung mit solchen der Entspannung wechseln.“
„Wer nüchtern ist, klopft vergebens an die Pforte der Poesie.“ (6)
Die Kontrolle ungezügelter Affekte
Die antiken Philosophen waren mehrheitlich der Meinung, dass man sein Verhalten ausschließlich vom Verstand leiten lassen und leidvolle und destruktive Affekte wie Hass, Neid, Gier, Zorn oder Furcht zurückdrängen und beherrschen solle. Für sie war das ständige Bemühen um eine ausgeprägte Affektkontrolle eine Methode, innerlich frei werden zu können. Für einige Philosophenschulen stellte das ständige Bemühen um den erstrebten Gemütszustand der Apatheia („weg von den Leidenschaften“ = „Leidenschaftslosigkeit“) sogar den wichtigsten Baustein auf dem Weg zur Glückseligkeit (Eudaimonie) dar .
„Wir ziehen auch viele Schmerzen Lustempfindungen vor, wenn uns auf das lange dauernde Ertragen der Schmerzen eine größere Lust nachfolgt.“ (7)
Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) maß in dem Zusammenhang der dafür notwendigen Fähigkeit, eine in Aussicht gestellte Belohnung aufschieben zu können, eine ziemlich große Bedeutung zu. Die dafür notwendige Selbstdisziplin nannte er Enkrateia. Er verstand darunter die Kunst, erfolgreich gegen die Willensschwäche (Akrasia) ankämpfen zu können und beharrlich an der Umsetzung der durch den Verstand festgelegten Ziele zu arbeiten.
Das Leben in Übereinstimmung mit der Natur
Schon der Begründer des Stoizismus
Zenon von Kition (ca. 333 - ca. 262 v. Chr.) forderte seine Anhänger auf, ihr Leben in Übereinstimmung mit dem
Logos, der göttlichen Weltordnung, zu gestalten. Er nannte das „in Übereinstimmung mit der Natur leben“. Die Stoiker waren davon überzeugt, dass jeder Mensch Teil eines großen Ganzen (kósmos) ist, in dem ein universelles Prinzip alles harmonisch ordnet und regelt. Dort soll
„alles wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten“
sein, wie Kaiser
Mark Aurel
(121 - 180 n. Chr.) in seinen Selbstbetrachtungen (VII,9) schreibt.
„Nahezu nichts ist sich fremd. Alles Geschaffene ist einander beigeordnet und zielt auf die Harmonie derselben Welt.“
„Dasselbe ist es, glücklich und gemäß der Natur zu leben.“
(8)
Für den Stoiker bedeutet dies, dass die Freiheit des menschlichen Willens somit stark begrenzt ist. Ihm bleibt nur, seinen Platz in dieser Ordnung zu erkennen und sein Los (Heimarmene) zu akzeptieren. Dazu Cicero (106 - 43 v. Chr.) in seiner Schrift De finibus bonorum et malorum: „Man kann nicht auf anderem Wege zur Glückseligkeit gelangen, als so, dass man von der Gesamtnatur und von der Einrichtung der Welt ausgeht".
„Die zur vollen Reife gelangte Vernunft ist die einzige Bedingung für ein glückliches Leben. Sie allein sichert dem Menschen in jeder Lebenslage die Gemütsruhe.“ (9)
Am besten folgt man dieser Weltvernunft, indem man Ereignissen und Begebenheiten des täglichen Lebens, die man ohnehin nicht beeinflussen kann, keine Bedeutung zumisst. Alles geduldig ertragen und sich jedes Strebens nach irdischen Gütern und Macht enthalten. All jenen, die das Lehrziel erreichen, winkt als Lohn die Ataraxia, die durch keine äußeren Umstände gestörte Seelenruhe.
Der Tod als Teil des Lebens
Für die meisten Philosophen war das Nachdenken über den Tod nichts anderes als ein Nachdenken über das, was den Menschen letztendlich ausmacht. Demzufolge betrachteten sie den Tod nicht einfach nur als einen unumgänglichen Teil des Lebens. Die meisten philosophischen Strömungen des Altertums waren sogar der Meinung, dass man sich zeitlebens auf die beim Tod stattfindende Trennung von Seele und Körper vorbereiten muss.
„Wir müssen uns eher auf den Tod als auf das Leben vorbereiten.“ (10)
Dies könne man erreichen, indem man das Leben eines Philosophen führt und seine Seele reinigt (Kátharsis), also quasi das „Sterben übt“. Platon (ca. 428 - ca. 348 v. Chr.) bringt das kurz und prägnant auf den Punkt: „Philosophieren heißt Sterben lernen“. Dennoch wird es doch so gewesen sein, dass auch in der Antike die Menschen Angst vor dem Tod hatten. So wissen wir z.B., dass Epikur (ca. 341 - ca. 271 v. Chr.) bei der Aufzählung der Ursachen, die dazu führen, dass die Seelenruhe beunruhigt werden kann, explizit auf die Angst vor dem Sterben und dem Tod hingewiesen hat.
„Nichts geht der Tod uns an, nichts kann er bedeuten,
Da ja das Wesen des Geistes nunmehr als sterblich erkannt ist.“
(11)
Aber nicht der Tod, sondern allein die Vorstellung vom Tod ist nach epikureischer Lehrmeinung dafür verantwortlich, dass man Angst vor dem Sterben hat. Folgerichtig fordert Epikur daher auf, sich an den Gedanken zu gewöhnen, „dass der Tod ein Nichts ist“. „Beruht doch alles Gute und alles Übel nur auf Empfindungen, der Tod ist aber die Aufhebung der Empfindung“. An anderer Stelle schreibt er dazu: „Das Furchtbarste aller Übel, der Tod“ betrifft uns ja nicht, „denn solange wir sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht mehr“. Es geht also weder die Lebenden noch die Toten etwas an, „denn bei den einen ist er nicht, und die anderen sind nicht mehr“. Nur die, die sich mit Philosophie beschäftigen und „ein Wissen über die tatsächlichen Zusammenhänge in der Natur besitzen“ können demzufolge zur Erkenntnis gelangen, „dass der Tod ein Nichts ist“, weil sie „weder das Leben noch das Nichtmehrleben fürchten“. (Brief an Meneoikeus)
„Die Erkenntnis, dass der Tod ein Nichts ist,
macht uns das vergängliche Leben erst köstlich.“ (12)
ANMERKUNGEN
(1) Man denke da beispielsweise an die Áskēsis in der Systemischen Psychotherapie, die Contemplatio in der Kontemplativen Psychotherapie, die Imaginatio in der Katathym Imaginativen Psychotherapie, die Kátharsis in der Expressiven Psychotherapie und die Medidatio z.B. in der Personenzentrierten Psychotherapie).
(2) Der Ursprung des Vergleichs zwischen Meer und menschlicher Seele ist u. a. bei Epikur zu suchen, in seinem Meeresgleichnis, welches uns durch die „Gespräche in Tusculum“ von Cicero überliefert ist.
(3) Sokrates in: Apol. 38a
(4) Demokrit in: Diels/Kranz (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, hrsg. von Hermann Diels und Walther Kranz. Weidmannsche Buchhandlung 1903
(5) Demokrit in: Fragment 2017
(6) Seneca
(7) Epikur in: Brief an Menoikeus
(8) Seneca in: De vita beata Seneca
(9) Seneca in: De tranqillitate animi
(10) Seneca in: Epistulae ad Lucilium 61,4
(11) Titus Lucretius Carus in: De rerum natura
(12) Epikur in: Brief an Meneoikeus
BILDNACHWEIS