Teil eines Erziehungsprogramms

KAVALIERE AUF DER SUCHE NACH
HUMANISTISCHER BILDUNG
Unter einer „Kavalierstour“, in Frankreich und England unter dem Begriff „Grand Tour“ bekannt, versteht man eine große, meist mehrmonatige Bildungsreise. Der Begriff „Kavalierstour“ taucht in der Literatur erstmals gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf. Das sich dahinter befindliche Konzept ist aber wesentlich älter und knüpft an die in der Zeit der Renaissance geprägten humanistischen Bildungs-und Erziehungsideale an. 
Ab dem 16. Jahrhundert entwickelten sich diese Reisen für die Söhne der europäischen Oberschicht zu einem Pflichtprogramm einer adeligen Standesbildung, vergleichbar mit einem Initiationsritus. Die jungen Männer machten sich dabei nach einer langen Vorbereitungszeit – ausgestattet mit einer großen finanziellen Unterstützung, zumeist in Begleitung eines Privatlehrers – auf, antike Bauwerke und Denkmäler zu besichtigen und sich quasi nebenbei in die hohe Schule der Diplomatie einführen zu lassen.

Kavaliere: Höflinge und Männer von Welt
Begriffsgeschichtlich lässt sich der Begriff „Kavalier“, unter dem man heutzutage einen höflichen und hilfsbereiten Mann versteht, der sich vor allem Frauen gegenüber sehr gut zu benehmen weiß, vom Wort „caballarius“ (lat. Pferdeknecht) ableiten. In späterer Zeit wird er dann häufig mit „Reiter“, „Ritter“ oder „Mann ritterlicher = adeliger Herkunft“ in Beziehung gebracht. Im Italienischen wurde daraus „Cavaliere“ und im Französischen „Chevalier“ (= Reiter, ritterlicher Mann). 

Die „Kavaliere“ des 17. und 18. Jahrhunderts , die schließlich zu Namensgebern der seit der Renaissance für die Söhne des europäischen Adels, später auch des gehobenen Bürgertums, obligatorischen Reisen durch Frankreich, Italien und Spanien wurden, eiferten letzlich nur literarischen Vorbildern nach, die weitgehend auf dem „Cortegiano“ des Grafen Baldassare Castiglione und dem „honnete homme“ der französischen Gesellschaft im Zeitalter des Absolutismus fußen.

Der „Cortegiano“
Als Meilenstein für den sich seit der Barockzeit allmählich durchsetzenden Bedeutungswandel vom „caballarius“ hin zu einer allgemein standesmäßig geltenden „Ritterlichkeit“ gilt das 1528 erstmals gedruckte „Il Libro del Cortegiano“ des Grafen Baldassare Castiglione (1478 – 1529). 
Baltasar de Castiglione: Raffael - commandé par Balthazar Castiglione vers 1514 ; gravé par N. Edelinck en 1729.
© Wikimedia Commons

 „Ein Cortegiano soll von aristokratischer Herkunft sein, das Waffenhandwerk als seine vorzüglichste Aufgabe betrachten und mit selbstverständlicher Beherrschung aller körperlichen Ferigkeiten umfassendste geistige Bildung vereinen.“ (1)
Baldassare Castiglione

In dem kurz „Cortegiano“ genannten Werk, das als eines der bedeutendsten Werke der italienischen Renaissance gilt, hat der Diplomat, der geraume Zeit am Hof der Herzöge von Urbino verbracht hatte, ein Menschenbild geschaffen, das den folgenden Jahrhunderten als (zumeist unerreichbares) Ideal vorschwebte. Antiken Vorbildern folgend formte Castiglione in seinem kurz vor seinem Ableben erschienenen Buch im „Cortegiano“ eine Figur, die alle Eigenschaften, die ein perfekter „Hofmann“ (Höfling) in sich vereinen musste. Dazu zählten humanistische Bildung, sicheres Auftreten, höfische Lebensart, ergänzt durch herausragende Fertigkeiten in der Kunst des Waffengebrauchs. 

Der „Honnête homme “
Das Hauptwerk des französischen Anwalts und Schriftstellers Nicolas Faret (um 1596 – 1646), das 1630 erschienene sozialpädagogische Traktat „L'Honnête homme ou l'art de plaire à la Cour“, das dem Autor die Aufnahme in die 1635 gegründete Académie française verschaffte, beschäftigt sich damit, welche Regeln ein Höfling im Zeitalter des Absolutismus zu beachten hatte, wollte er erfolgreich in diesem schwierigen Terrain reüssieren. Menschen, die dem darin beschriebenen Persönlichkeitsideal (Honnêteté = Ehrbarkeit) entsprachen, wurden demgemäß als honnête homme bzw. honnête femme bezeichnet. Unter Ludwig XIV. entwickelte sich daraus ein Leitbild, das sich schließlich die meisten europäischen Höfe zum Vorbild nehmen sollten. In der von Caspar Bierling 1647 in Leipzig veröffentlichten Übersetzung dieser klassischen Schrift fand das Ideal des Hof- und Weltmanns auch in Deutschland Eingang. Ein Edelmann wurde demzufolge folgendermaßen charakterisiert: „Gehaltenheit, Proportion, Gleichgewicht, savoir faire und savoir vivre, all das in Einheit und Gesetzlichkeit, verhaltene Leidenschaft ohne Emphase, nach dem Heroischen hingerichtet, das Heroische aber nur denkbar, wenn es sich im Schönen offenbart.“ (2)

Reisen als Teil eines Erziehungsprogramms
Im Zeitalter der Renaissance setzte sich allmählich die Auffassung durch, dass Buchwissen allein nicht ausreicht, wenn man „universal“ gebildet sein möchte. Erst in Verbindung mit einer lebendigen Erfahrung, die man etwa durch das Kennenlernen fremder Länder und der dort lebenden Menschen, ihrer Sitten und Gebräuche, ihrer Sprachen, ihrer Geschichte, ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Einrichtungen und ihrer wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen sammeln kann, schien das möglich zu sein. Besuche an den Höfen ausländischer Fürsten und das Kennenlernen möglichst vieler dort lebenden Menschen schufen zudem die Verbindungen, die für die Zukunft des jungen Kavaliers von Bedeutung sein konnten. Netzwerken gehört also schon damals zu den Pflichtprogrammen der Karrieristen. 

 „Doch auch in Rom ist zuwenig für den gesorgt, dem es Ernst ist, ins Ganze zu studieren. Er muss alles aus unendlichen, obgleich überreichen Trümmern zusammenstoppeln.“ (3)
Johann Wolfgang von Goethe

Die „Touren“ zu den Zentren des europäischen Kultur- und Geisteslebens gaben den jungen Adeligen außerdem Gelegenheit, Fähigkeiten wie Unternehmungsgeist, Mut, Führungskraft und Entschlussfähigkeit zu erwerben und zu trainieren, Manieren und Anstandsregeln zu festigen und nicht zuletzt die Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern. Diese Fähigkeiten und Kenntnisse waren für die kommenden Mitglieder der neuen Führungsschicht sowohl auf dem Gebiet der Hoheitsverwaltung als auch bei der Ausübung freier Berufe von immer größer werdender Bedeutung. Das gleichberechtigte Nebeneinander von körperlicher Fitness, Weltgewandtheit und geistiger Bildung und das Streben nach einer Ausgewogenheit aller Fähigkeiten und Eigenschaften, die einen „Cortegiano“ oder einen „honnête homme“ eben ausmachen, war – im Gegensatz zu dem, was die Kirche in den Jahrhunderten davor predigte, das grundlegend Neue. 
ANMERKUNGEN

(1) Willy Andreas: Baldassare Castiglione und die Renaissance. Geist und Staat. München-Berlin (1922)
 (2) Carl J. Burckhardt: Der honnete homme. Das Eliteproblem im 17. Jahrhundert. Gestalten und Mächte. München (1941)
(3) Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise: vollständige Ausgabe mit Illustrationen: vollständige Ausgabe mit zeitgenössischen Illustrationen. Nikol (2017)

BILDNACHWEIS
  • Titelbild: J. Ph. Hackert, Ansicht der Basilika und des Poseidontempels von Paestum, 1777. © Wikimedia Commons
  • Baltasar de Castiglione: Raffael - commandé par Balthazar Castiglione vers 1514 ; gravé par N. Edelinck en 1729. © Wikimedia Commons
BUCHEMPFEHLUNGEN
  • Gabriela Wolf: De Dignitate Hominis: Zum Menschenbild in der Geschichte der Pädagogik. Dr.-Ing.-Hans-Joachim--Lenz-Stiftung (2007)
  • Baldassare Castiglione: Der Hofmann: Lebensart in der Renaissance. Wagenbach (1999)
  • Nicolas Faret: L'Honnête homme ou l'art de plaire à la Cour. Editions Slatkine (2011)
  • Mathias Leibetseder: Die Kavalierstour: Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert. Böhlau (2004)
  • Julia Gebauer: Entstehung des Tourismus: Von der Kavalierstour bis zu den Anfängen der Pauschalreise. Vdm (2008)
  • Kai Wallbaum: Die Kavalierstour in der Frühen Neuzeit. Reisen zwischen Bildung und Vergnügung. Grin (2016)
Share by: