Der Besuch antiker Stätten war schon fixer Bestandteil einer Reise als noch die Söhne des europäischen Adels deswegen die damit verbundenen Strapazen auf sich nahmen, weil sie fern der Heimat trefflich an ihrer Karriere basteln konnten. Diese standardmäßig von den Alpen bis nach Sizilen führenden „Kavalierstouren“ dienten dabei als „große Universität unter freiem Himmel“. Und da durfte natürlich keine Gelegenheit ausgelassen werden, „klassische Sehenswürdigkeiten und Überreste der untergegangenen römischen Kultur“ zu besuchen und dabei „gründlich, Architektur, Statuen und Gemälde“ zu studieren.
Das sollte uns nicht weiter verwundern. Aber dass es auch für den Erfinder der ersten verbilligten Gesellschaftsreisen, Thomas Cook (1808 – 1892), völlig klar war, dass seine Touren unbedingt zu den damals bekannten Kunstwerken der Antike führen mussten, lässt uns schon vermuten, dass von der griechischen und römischen Antike tatsächlich auch für Normalsterbliche eine große Faszination ausgehen muss.
Und auch im Internet-Zeitalter erscheint das Interesse an der europäischen Antike und ihrem kulturellen, materiellen und historischen Erbe nicht nachzulassen. Ganz im Gegenteil: Jahr für Jahr steigen die Besucherzahlen in den archäologischen Parks, die allerorts aus dem Boden schießen. Die Auflagen (erfreulicherweise auch die Qualität) der Bücher, die sich mit diesbezüglichen Themen beschäftigen, steigen kontinuierlich an. Und auch die Filmindustrie setzt bewusst immer wieder auf antike Themen. Wie die großen Erfolge diverser Produktionen (z.B. „Gladiator“ „Alexander“, „Troja“) zeigen, dürften die Filmschaffenden dabei nicht ganz falsch liegen.
„Alle Träume meiner Jugend seh' ich nun lebendig; die ersten Kupferbilder, deren ich mich erinnere, seh' ich nun in Wahrheit, und alles, was ich in Gemälden und Zeichnungen, Kupfern und Holzschnitten, in Gips und Kork schon lange gekannt, steht nun beisammen vor mir; wohin ich gehe, finde ich eine Bekanntschaft in einer neuen Welt; es ist alles, wie ich mir's dachte, und alles neu. Ebenso kann ich von meinen Beobachtungen, von meinen Ideen sagen. Ich habe keinen ganz neuen Gedanken gehabt, nichts ganz fremd gefunden, aber die alten sind so bestimmt, so lebendig, so zusammenhängend geworden, dass sie für neu gelten können.“ (1)
Johann Wolfgang von Goethe
Bildungsbeflissene, die sich nach Italien oder Griechenland aufmachen, um „vom heiligen Kunstgeist, von der mildesten Atmosphäre, von antiquarischen Erinnerungen und von süßem Wein trunken“
(1) zu werden und auf der Suche nach „edler Einfalt“ und „stiller Größe“
(2) in der Anschauung antiker Kunstwerke das Ideal des Klassischen zu finden, haben es heutzutage, zumindest auf den ersten Blick gesehen,viel schwerer als früher. Schließlich macht, wie es scheint, der Massentourismus mit all seinen Begleiterscheinungen doch alle diesbezüglichen Anstrengungen nahezu unmöglich. Allerorts nur Selfie-schießende, geistig völlig unterbelichtete Touristen, die – ohne überhaupt eine Ahnung zu haben, wo sie sich gerade befinden, dem wahrlich Interessierten bloß im Weg stehen!
Aber hält dieser Erstbefund einer näheren Überprüfung überhaupt stand? Die erste Frage, die sich in dem Zusammenhang stellt, ist, ob es früher die jungen Adeligen oder privilegierten Bürgerlichen, die es sich leisten konnten, eine Bildungsreise zu den geheiligten Stätten der Antike zu unternehmen, tatsächlich leichter gehabt haben, „das Große und Schöne willig zu verehren, und diese Anlage an so herrlichen Gegenständen Tag für Tag, Stunde für Stunde auszubilden“? (1)
Ich möchte das aus mehreren Gründen bezweifeln. Zum einen deswegen, weil damals das Reisen auch für die Angehörigen der höheren Stände nicht nur exorbitant teuer, sondern auch in einem Ausmaß anstrengend war, wie wir verwöhnten Weicheier uns das nicht einmal vorstellen mögen. Noch im 19. Jahrhundert war ein „Europatrip“ ein so aufregendes Erlebnis, dass mancher Reisende es bald bereute, die Fahrt überhaupt angetreten zu haben (Literaturempfehlung dazu: J. Imorde u. Erik Wegerhoff: Dreckige Laken - Die Kehrseite der Grand Tour. Wagenbach (2018). Noch dazu war es früher gar nicht so leicht, Ausgrabungsstätten zu besuchen oder Kunstwerke zu bestaunen. Viele antike Stätten waren noch nicht entdeckt, und die, bei denen es der Fall war, konnten von Normalsterblichen so einfach nicht besucht werden. Die meisten Kunstsammlungen befanden sich außerdem im Besitz von Adeligen, die nur Auserwählten gestatteten, die dort befindlichen Schätze zu bestaunen.
Was würde wohl der Geheimrat Goethe zu der Liste antiker Stätten bei Wikipedia sagen?
Die zweite - vielleicht noch wichtigere - Frage dreht sich um die Möglichkeiten, Zugang zu relevanten und wissenschaftlich gesicherten Informationen zu erhalten. Abgesehen davon, dass vor einigen Jahrhunderten der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung noch ziemlich niedrig war, und sich daher die Nachfrage nach diesbezüglichen Informationen natürlich in überschaubaren Grenzen hielt, ist schon festzuhalten, dass wir uns heute durch die schier unübersehbare Masse an diesbezüglichen Publikationen und das immer professioneller werdende Angebot an didaktisch aufbereiteten Präsentationen in einer gänzlich anderen Situation befinden.
Was würde wohl J. J. Winckelmann dazu sagen, wenn er zur Kenntnis nehmen müsste, dass die antike Architektur und damit auch die Plastik gar nicht weiß, sondern kitschig bunt war?