Die Burg von Tiryns

Obwohl Tiryns während der klassischen Grand Tour nicht zu den prominentesten Zielen zählte, blieb die mykenische Ruinenstätte durch ihre imposanten zyklopischen Mauern unübersehbar und zog bereits seit dem 17. Jahrhundert die Aufmerksamkeit reisender Gelehrter und Naturliebhaber auf sich. Zu den bekannten frühen Besuchern gehörten der irische Reiseschriftsteller Edward Dodwell, der britische Topograph William Martin Leake und der deutsche Archäologe Ludwig Ross, deren Berichte und Skizzen maßgeblich dazu beitrugen, den Standort in das Interesse der archäologischen Forschung zu rücken. Bereits im September 1831 führten der deutsche Altphilologe Friedrich Thiersch und sein griechischer Kollege Alexandros Rizo Rangabé erste, wenngleich nur kurzzeitige Grabungen durch, wodurch der Beginn einer intensiveren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Tiryns markiert wurde.

Tiryns zählt zu den bedeutendsten archäologischen Stätten der bronzezeitlichen Ägäis und ist ein faszinierendes Zeugnis mykenischer Baukunst. Die Festung erstreckt sich über einen sanft abfallenden Hügel, etwa acht Kilometer von Argos und rund 20 Kilometer südöstlich von Mykene entfernt. Dank ihrer strategisch günstigen Lage – nur etwa 1,5 Kilometer vom Meer entfernt – kontrollierte Tiryns wichtige Handelsrouten zwischen dem griechischen Festland und den ägäischen Zentren. Einige Forscher vermuten, dass Tiryns als Hafen von Mykene diente, während andere die Stätte als eigenständiges Machtzentrum interpretieren – eine Annahme, die durch die monumentalen Bauwerke untermauert wird.
Berühmt sind vor allem die imposanten Befestigungsanlagen der Burg von Tiryns, die in sogenannter Zyklopenbauweise errichtet wurden – riesige, ohne Mörtel gefügte Kalksteinquader, von denen einige bis zu drei Meter lang und einen Meter dick sind. Diese beeindruckende Bauweise lieferte den antiken Griechen Anlass, die gewaltigen Mauern übermenschlichen Wesen, den Zyklopen, zuzuschreiben. Auch in der Mythologie spielt die Stadt eine bedeutende Rolle: Sie gilt als Wohnsitz des Herakles während seiner berühmten Taten, und manche Überlieferungen bezeichnen Tiryns sogar als seinen Geburtsort. Zudem verknüpfen andere Heldensagen – etwa die von Bellerophon und Perseus – die Stadt mit heroischen Gestalten.
Schon Homer rühmte die "mächtigen Mauern" von Tiryns.
Siedlungsgeschichte
Tiryns weist bereits im Frühhelladikum II (ca. 2500–2200 v. Chr.) bedeutende Spuren früher Besiedlung auf – belegt durch einen imposanten Rundbau auf der Oberburg und angrenzende Bauten. Auch im Frühhelladikum III und Mittelhelladikum war die Siedlung kontinuierlich bewohnt, was auf ihre frühe regionale Bedeutung hinweist. Der Höhepunkt Tiryns’ gelang in der späthelladischen (mykenischen) Periode (ca. 1600–1050 v. Chr.), als die Stadt zu einem der bedeutendsten Zentren der mykenischen Kultur – vergleichbar mit Mykene, Theben und Pylos – aufstieg. Die strategisch günstige Lage, etwa 1,5 Kilometer vom Meer entfernt, förderte die Blütezeit. Auf der Oberburg entstand ein ausgedehnter Palastkomplex, geschmückt mit kunstvollen Fresken, der ein zentrales Megaron, Thron- und Herdstelle sowie einen angrenzenden Komplex über zwei Terrassen umfasste. Ergänzt wurde das Bild durch eine weitläufige Unterstadt, die auf eine große städtische Bevölkerung hinweist. Die monumentalen Befestigungsanlagen in Zyklopenbauweise – riesige, ohne Mörtel gefügte Kalksteinquader – machten Tiryns legendär.

In Tiryns, wie im übrigen mykenischen Reich, arbeiteten Maler für den König (14. – 13. Jahrhundert v. Chr.). Großflächige Wandmalereien stellen üblicherweise religiöse Zeremonien und Jagdszenen dar. Ersteres umfasst Prozessionen und rituelles Stierhüpfen, bei dem der Einfluss des minoischen Kreta deutlich wird. Wildschweine, deren Stoßzähne zur Herstellung von Helmen verwendet wurden, waren eine beliebte Beute der mykenischen Oberschicht, die Streitwagen sowohl für die Jagd als auch im Kampf einsetzte. Die Beteiligung von Frauen an religiösen Prozessionen und Jagden zeugt von ihrem hohen Status in der mykenischen Welt. © Bild: Wikimedia Commons
Mit dem Einbruch des 12. Jahrhunderts v. Chr., vermutlich durch ein schweres Erdbeben oder eine erdbebenbedingte Überschwemmung, kam es zu erheblichen Zerstörungen, die jedoch teilweise wieder behoben wurden. In historischer Zeit geriet Tiryns zunehmend in den Schatten der benachbarten Großmacht Argos, die – unterstützt durch die Unterwerfung Mykenes – in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. die Stadt endgültig zerstörte und damit ihr früheres prägenden Glanz verloren ging.
Die Reste der mächtigen mykenische Befestigungsmauer blieben aber bis zu den ersten Grabungen im 19. Jahrhundert immer sichtbar. Deshalb war die Identifizierung des Ortes nicht so schwer wie dies bei anderen antiken Schauplätzen der Fall war. Von Pausanias wissen wir zum Beispiel, dass ihn die zyklopischen Mauern von Tiryns so beeindruckten, dass er sie mit den Pyramiden des Alten Ägyptens verglich.

Die archäologische Stätte Tiryns
Heute ist Tiryns zwar eine bekannte, aber eher wenig besuchte Stätte in der Nähe der modernen Stadt Nafplion. Wer sie besucht, steht mit Ehrfurcht vor den gigantischen Mauern und spürt den Glanz einer untergegangenen Welt – einer Welt, in der Tiryns eines der leuchtenden Zentren der mykenischen Zivilisation war.

Der langgestreckte Siedlungshügel fällt von Süden nach Norden leicht ab. Durch das Gefälle und natürliche Gegebenheiten ergibt sich von selbst eine Unterteilung in eine Ober-, Mittel- und Unterburg. Die verschiedenen Teile wurden mit starken Stützmauern abgegrenzt.

Die Oberburg: (1) Rampe, (2) Östliches Haupttor, (3) Tore, (4) Hof mit Säulenhalle, (5) Ostkasematten, (6) Großes Propylon, (7) Äußerer Palasthof, (8) Kleines Propylon, (9) Innerer Palasthof mit Säulenhallen, (10) Altar, (11) Großes Megaron, (12) „Badezimmer“, (13) Westliche Palasträume, (14) Kleines Megaron, (15) Frühhelladischer Rundbau, (16) Östliche Palasträume, (17) Mittelburg, (18) Westtreppenanlage, (19) Pforte, (20) Südkasematten, (21) Westtor, (22) Unterburg
Der Weg zur Oberburg führt entlang der beeindruckenden Reste der Mauern, die einst die Unterburg vor Angriffen schützen sollten. Diese zyklopischen Mauern stammen aus dem 14. bzw. 13. Jahrhundert v. Chr.
An der Ostseite der Burg führt eine 47 m lange Rampe (1) zum Eingang.
Danach geht es links weiter zur Oberburg. Dazu muss man einen immer enger werdenden Zwinger durchqueren. Für Angreifer stellte dieser Bereich eine besondere Herausforderung dar, da ja die Verteidiger diese sowohl von der besonders dicken Außenmauer als auch von der Stützmauer der Ober- bzw. Mittelburg unter Beschuss nehmen konnten.
Vom östlichen Haupttor (2), das ähnlich wie das Löwentor in Mykene ausgesehen haben mag, sind lediglich die 4 m lange Schwelle und der rechte Türpfosten erhalten geblieben. Nach wenigen Metern verengte sich der Gang nochmals. Von den beiden Toren (3), die dann folgten, hat sich nichts mehr erhalten.
Nach Durchschreiten der beiden Tore gelangte man in einen
großen Hof
(4), der von minoisch-mykenischen Säulen umgeben war. An der Ostseite haben sich davon lediglich vier Säulenbasen erhalten. An der Südseite dieses Hofes führte eine Treppe hinunter zur
Ostgalerie (5), die sich unter einer Halle befand, die bei der dritten Erweiterung der Burg entstanden war. Der Zweck dieser in Kragsteinbauweise errichteten Galerie ist aber nicht geklärt.

© Bild: Wikimedia Commons
Über Korridore, die von zwei Propyla (6) unterbrochen wurden, gelangte man zum Äußeren Palasthof (7). Dieser Säulenhof bildete eine Einheit mit den Repräsentationsräumen (8 – 14). Hier entfaltete sich die ganze Pracht der mykenischen Palastideologie. Hier empfing der wa-na-ka seine Gäste, hier wurden die kultischen Zeremonien vollzogen.
Von der auf einer etwas tiefer gelegenen Mittelburg (17), wo sich unter anderem auch die Palastwerkstätten befunden hatten, führt eine von einem Turm und einer Bastion geschützte Treppe zu einer Pforte (19).
Das Tholosgrab von Tiryns
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde etwa 1 km östlich der Burg von Tiryns ein unterirdischer Tholosbau ausgegraben, der in späthelladischer Zeit (um 1300 v. Chr.) errichtet und in römischer Zeit ausgeraubt wurde. Der aus grob behauenen Kalksteinplatten errichtete Dromos ist rund 14 m lang und 3 m breit. Der mit drei Steinplatten abgedeckte Torweg ist 5 m lang, 4 m hoch und 2 m breit. Von innen ist das Entlastungsdreieck über dem Eingang noch sichtbar. Die eigentliche Grabkammer (Tholos) hat einen Durchmesser von 8.5 m und eine Höhe von 8 m.
BILDNACHWEIS
- George E. Koronaios: Female figure from the Mycenaean frescoes of Tiryns at the National Archaeological Museum of Athens. © Bild: Wikimedia Commons
- Étienne Rey. Voyage Pittoresque en Grèce et dans le Levant fait en 1843-1844, vols Ι-ΙΙ, Lyon, Louis Perrin, MDCCCLXVII (1867). © Bild: Wikimedia Commons
- Plan der Burg von Tiryns: © Bild: Wikimedia Commons
- Gallery in Tiryns: Davide Mauro © Bild: Wikimedia Commons

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BUCHEMPFEHLUNGEN
- Josef Fischer: Mykenische Paläste: Kunst und Kultur. Philipp von Zabern (2017)
- J. Lessley Fitton: Die Minoer. Theiss (2004)
- Zeit der Helden: die "dunklen Jahrhunderte" Griechenlands 1200 - 700 v. Chr. Badisches Landesmuseum Karlsruhe. Primus (2008)
- Götter und Helden der Bronzezeit. Europa im Zeitalter des Odysseus. Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (1999)
- Richard T. Neer: Kunst und Archäologie der griechischen Welt: Von den Anfängen bis zum Hellenismus. Philipp von Zabern (2013)
- Katarina Horst u.a.: Mykene. Die sagenhafte Welt des Agamemnon. Philipp von Zabern (2018)
- George E. Mylonas: Mykene. Ein Führer zu seinen Ruinen und seine Geschichte. Ekdotike Athenon ( 1993)
- Ingo Pini: Beiträge zur minoischen Gräberkunde. Deutsches Archäologisches Institut (1968)
- Hans Günter Buchholz: Ägäische Bronzezeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft (1987)
- Heinrich Schliemann: Bericht über meine Forschungen und Entdeckungen. Fachbuchverlag Dresden (2019)
- Mykene: Die sagenhafte Welt des Agamemnon. Badisches Landesmuseum Karlsruhe (2018)
- Louise Schofield: Mykene: Geschichte und Mythos. Zabern (2009)
- Sigrid Deger-Jalkotzky und Dieter Hertel: Das mykenische Griechenland: Geschichte, Kultur, Stätten. C.H. Beck (2018)
- Angelos Chaniotis: Das antike Kreta. Beck'sche Reihe (2020)
- Karl-Wilhelm Welwei: Die griechische Frühzeit: 2000 bis 500 v.Chr. Beck'sche Reihe (2019)