Lawrence

D. H. Lawrence in Etrurien

D. H. Lawrence in Etrurien

Der englische Schriftsteller David Herbert Lawrence (1885 – 1930) reiste im Frühjahr 1927 mit seinem Freund Earl Brewster nach Cerveteri, Tarquinia, Vulci und Volterra. Der damals schon schwer kranke Lawrence wollte dabei das wilde, nördlich von Rom gelegene Gebiet erkunden, in dem sich einst das Zentrum der etruskischen Kultur befand. Eigentlich hatte er vor, ein Reisebuch über alle Städte der sagenumwobenen zwölf Völker Etruriens zu schreiben. Nicht zuletzt, weil sein Gesundheitszustand immer schlechter wurde, entstanden aber nur sieben Aufsätze, die erstmals 1932 posthum unter dem Titel „Sketches of Etruscan Places and other Italian Essays“ veröffentlicht wurden. In diesen beschrieb Lawrence die Orte, die Nekropolen, die Museen, aber auch die Reise selbst. Obwohl seine Herangehensweise an die Thematik höchst persönlich und unwissenschaftlich war, hat dennoch sein Buch „Etruskische Stätten“ die Vorstellung moderner Leser über dieses verschwundene Volk nachhaltig geprägt.


Bei den Etruskern glaubte der todkranke Lawrence eine lebensbejahende Kultur gefunden zu haben, die den Freuden des diesseitigen Lebens durchaus zugetan war und den Tod als einen Weg zur Erneuerung betrachtete.

Nekropole von Monterozzi: Grab der Jagd und des Fischfangs.

Nekropole von Monterozzi: Grab der Jagd und des Fischfangs. © Bild: Wikimedia Commons. Die sog. „Szene des Tauchers“ findet sich übrigens auch etwa 30 Jahre später im „Grab des Tauchers“ in der Nähe der antiken griechischen Stadt Poseidonia.


„Für die Etrusker war alles lebendig, das ganze Universum lebte,

und die Aufgabe des Menschen bestand darin, inmitten all dessen zu leben.“


D. H. Lawrence musste die Grabanlagen noch mit Hilfe von Acetylenlampen erkunden; auch war es damals alles andere als einfach, überhaupt zu den Grabungsstätten zu gelangen. Heute stellt sich die Situation natürlich völlig anders dar. Die mittlerweile errichteten Archäologieparks sind meist nach modernen Qualitätsstandards gestaltet. Auch wurden zahlreiche Funde erst vor wenigen Jahren gemacht. Dennoch macht es durchaus Sinn, sich bei einem Besuch einer solchen „etruskischen Stätte“ gemeinsam mit Lawrence auf eine Reise in die Gedankenwelt der Etrusker zu machen.


Ich habe mir erlaubt, zu Fotos, die ich dort im Jahr 2023 machte, einige Textstellen aus der deutschsprachigen Ausgabe seines Werkes (D. H. Lawrence: Etruskische Stätten. Nuova immagine editrice. Siena, 1989) zu entnehmen. 

Cerveteri


„Eine sanfte Stille umgibt diese großen Grashügel mit ihren uralten Steinumfassungen, und auf dem Mittelweg ist noch so etwas wie ein schlichtes Glücksgefühl zurückgeblieben.“


„Man hatte das Gefühl, dass es der Seele guttat, hier zu sein.“



„Es blieb so, als wir die wenigen Stufen hinunterstiegen und die Grabkammern im Inneren des Tumulus betraten. Es ist nichts darin zurückgeblieben. Sie sind wie ein Haus, das reingefegt wurde: die alten Bewohner sind ausgezogen; nun wartet es auf die nächsten.

Aber wer es auch war, der fortging: er hat ein angenehmes Gefühl zurückgelassen,

das das Herz erwärmt und den Eingeweiden wohltut.“


Banditaccia-Nekropole in Cerveteri


„Sie sind überraschend geräumig und ansehnlich, diese Wohnungen der Toten. Aus dem lebendigen Fels gehauen, gleichen sie Häusern. Auf dem Dach ist ein Balken eingemeißelt, der den Dachbalken des Hauses imitieren soll. Es ist ein Haus, ein Heim.“


Banditaccia-Nekropole in Cerveteri


„Tritt man ein, gelangt man in zwei kleine Kammern, eine zur Rechten, die andere zur Linken: die Vorräume. Es heißt, hier sei die Asche der Sklaven in Urnen auf den großen Felsenbänken bewahrt worden. Denn vermutlich wurden die Sklaven immer verbrannt. Hingegen wurden die Herren in Cerveteri in Lebensgröße aufgebahrt, zuweilen in den großen steinernen Sarkophagen, zuweilen in großen Särgen aus Terrakotta, mit allen Zeichen ihrer Würde. Doch meistens wurden sie nur auf das breite Felsenbett gelegt, das um das Grab herumläuft und jetzt leer ist: friedlich auf eine offene Bahre gelegt, nicht in Sarkophagen eingeschlossen, ruhend, als ob sie noch lebten.“


Banditaccia-Nekropole in Cerveteri


„Die mittlere Kammer ist recht groß; ein mächtiger viereckiger Felsenpfeiler blieb in der Mitte zurück, der offenbar das solide Dach trug, so wie ein Firstbalken ein Hausdach abstützt. Und rings um die Kammer läuft das breite Felsenbett, zuweilen in doppeltem Rang, auf das man, in ihren Särgen oder offen auf ornamentierten hölzernen und steinernen Bahren, die Toten legte: einen Mann in glitzernder goldener Rüstung oder eine Frau in weißen und purpurnen Gewändern, mit großen Kolliers um den Hals und Ringen an den Händen. Hier lag die Familie, lagen die großen Häuptlinge und ihre Frauen, die Lucumones und ihre Söhne und Töchter, viele in einem Grab.“


Banditaccia-Nekropole in Cerveteri © Bild: Wikimedia Commons.


„Im ganzen ist hier alles einfach, schlicht, für gewöhnlich ohne Ornamente, und mit jenen ungezwungenen, natürlichen Proportionen, deren Schönheit man kaum gewahr wird; so selbstverständlich, naturhaft entstehen sie.“



Banditaccia-Nekropole in Cerveteri


„Das Grotta Bella genannte Grab ist interessant wegen der Flachreliefs und der Stuckreliefs auf den Pfeilern und den Wänden rings um die Grabnischen und über dem steinernen Totenbett, das um die Grabkammer herumläuft. Die meisten dargestellten Gegenstände sind Waffen und kriegerische Abzeichen: Schilde, Helme, Brustharnische, Beinschienen, Schwerter, Speere, Schuhe, Gürtel, das Halsband eines Edelmanns; ferner die geweihte Trinkschale, das Zepter, der Hund, der dem Manne sogar auf der Totenreise als Wächter beisteht, die beiden Löwen, die das Tor des Lebens oder Todes flankieren, der Triton oder Meermann und die Gans: der Vogel, der auf dem Wasser schwimmt und seinen Kopf tief in die Flut des Anfangs und Endes taucht.“


Banditaccia-Nekropole in Cerveteri


„Und der Tod war für die Etrusker eine heitere Fortsetzung des Lebens, mit Edelsteinen und Wein und mit Flöten, die zum Tanz aufspielten. Er war weder eine ekstatische Seligkeit, ein Himmel, noch ein qualvolles Purgatorium. Er war einfach eine natürliche Fortdauer der Lebensfülle. Alles fand seinen Ausdruck in Begriffen des Lebens, des Lebendigen.“


National Archaeological Museum of Cerveteri
Tarquinia


„Die Etrusker bauten kleine Tempel aus Holz, die aussahen wie Häuschen mit Spitzgiebeln. Aber auf deren Außenwand brachten sie Friese und Kranzgesimse aus Terrakotta an, so dass der obere Teil des Tempels nahezu aus Ton zu bestehen schien: aus sauber eingefügten Terrakottatafeln, die sehr lebendig wirkten mit ihren zwanglos modellierten, bemalten Relieffiguren. … Das Ganze klein und zierlich in den Proportionen und erfrischend, irgendwie charmant statt beeindruckend.“


Zeichnung: Josef Durm in: Die Baukunst der Etrusker.
Kröner (1905)


„Man wird unter den modernen Grabdenkmälern schwerlich etwas so Vorzügliches finden wie den Sarkophag des Amtsherren mit der vor ihm entfalteten beschrifteten Pergamentrolle – des Amtsherren, dessen energisches, wachsames altes Gesicht ernst blickt und der um den Hals seine Kette und am Finger den seine Würde bekundenden Ring trägt. Das Kleid lässt seinen Oberkörper frei bis zu den Hüften, und er liegt schlaff und gelockert da, so dass jene Wirkung völliger körperlicher Entspannung entsteht, die die etruskischen Künstler so gut wiedergeben und die so schwer zu erreichen ist. Wahrscheinlich war dieser alt etruskische Richter schon ein von den Römern eingesetzter Beamter, denn er hält nicht das geweihte Mundum, die Schale, sondern nur die Schriftrolle, vermutlich mit einem Gesetzestext. Als wäre er nicht länger der religiöse Meister oder Lucumo.“


    Archäologisches Nationalmuseum in Tarquinia


„Dieser ganze Hügel vor uns“, sagt der Führer“, „besteht aus Gräbern!

Alles Gräber! Die Totenstadt.“


„Das ist die Nekropole. Einst befanden sich hier viele Tumuli und Gräberstraßen; jetzt findet sich von Gräbern keine Spur; kein Tumulus, nichts als der raue, kahle Hügelkamm mit Steinen und kurzem Gras und Blumen; zur Rechten glänzt fern das Meer, unter der Sonne, und binnenwärts leuchtet das sanfte Land sehr grün und rein.“


Necropoli dei Monterozzi in Tarquinia


„Der Führer öffnet das Eisentor, und wir steigen die steilen Stufen zum Grabe hinunter. Es wirkt wie ein dunkles, enges, unterirdisches Loch, nach dem Sonnenlicht des Tages!“



Necropoli dei Monterozzi in Tarquinia


„Es ist das Grab der Jagd und des Fischfangs, das diesen Namen nach seinen Fresken erhalten hat und im 6. Jh. v. Chr. entstanden sein soll. Es ist stark beschädigt; Stücke an der Wand sind abgefallen, die Feuchtigkeit hat die Farben angefressen, nichts scheint erhalten geblieben.“


Necropoli dei Monterozzi in Tarquinia


„Doch in der trüben Beleuchtung sehen wir Schwärme von Vögeln durch den Dunst fliegen, die noch die Zugluft des Lebens in ihren Flügeln bewahren. Und als wir uns ein Herz fassen und näher hinschauen, sehen wir, dass der kleine Raum rings herum mit dem dunstigen Himmel, dem dunstigen Meer, mit fliegenden Vögeln und springenden Fischen und kleinen jagenden, fischenden, in Booten rudernden Menschen bemalt ist.“


Necropoli dei Monterozzi in Tarquinia © Bild: Wikimedia Commons.


„Die Männer sind fast immer in dunklem Rot gemalt: der Farbe, die viele Italiener annehmen, wenn sie sich nackt der Sonne aussetzen, wie dies die Etrusker zu tun pflegten. Frauen werden blasser dargestellt, weil sie sich nicht nackt in die Sonne begaben.“


Necropoli dei Monterozzi in Tarquinia


„Wir steigen in ein anderes Grab hinunter, das, wie der Führer sagt, das Grab der Leoparden heißt. Im Leopardengrab befinden sich zwei gefleckte Leoparden im Dreieck der hinteren Wand zwischen den Dachschrägen. Daher der Name.“


„In dem Winkel, den der Giebel bildet, sind die beiden gefleckten Leoparden, die einander über einen kleinen Baum hinweg anschauen, wie es die Heraldik verlangt. Und an der Decke der Felsenkammer sieht man karierte Schrägen mit roten und schwarzen und gelben und blauen Feldern, dazu einen Dachbalken, der mit farbigen – dunkelroten, blauen und gelben – Kreisen bemalt ist. So ist alles Farbe, und anscheinend befinden wir uns überhaupt nicht unter der Erde, sondern in einem heiteren Gemach aus vergangenen Tagen.“


Necropoli dei Monterozzi in Tarquinia


„Die Wände des kleinen Grabes sind ein einziger Freudentanz. Der Raum scheint noch von den Etruskern aus dem sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt bewohnt zu sein, einem lebhaften, lebensbejahenden Volk, das aus einer rechten Fülle heraus gelebt haben muss. Da nahen die Tänzer und Flötenspieler und bewegen sich in einem breiten Fries auf die vordere Wand des Grabes zu – die Wand, auf die wir blicken, wenn wir von der dunklen Treppe eintreten und auf der das Festmahl in seiner ganzen Pracht im Gange ist.“



„Die hintere Wand zeigt eine Bankettszene. Die Schmausenden lagen auf einer karierten oder buntgewürfelten Decke, die über das Ruhebett gebreitet ist.“


„Sie liegen paarweise – Mann und Frau ruhen in gleicher Weise auf dem Lager -, seltsam zutraulich. Die beiden Frauen rechts und links werden Hetaerae, Kurtisanen, genannt, vor allem ihres blonden Haares wegen, das ein beliebtes Kennzeichen der Freudenmädchen gewesen zu sein scheint. Die Männer sind dunkel, mit rötlicher Hautfarbe und nackt bis zur Taille.“



„Die Frauen, leicht hinskizziert auf dem gelblichen Felsen, sind hellhäutig und tragen dünne Kleider und prächtige Mäntel um ihre Hüften. Sie haben einen gewissen kecken und freien Blick – und vielleicht sind es wirkliche Kurtisanen.“


Necropoli dei Monterozzi in Tarquinia


„Der Mann am äußeren Ende hält zwischen Daumen und Zeigefinger ein Ei hoch und zeigt es der neben ihm ruhenden blonden Frau; sie streckt ihre linke Hand aus, als wollte sie seine Brust berühren. Er hält in der Rechten eine große Weinschale für das Trinkgelage.“



„Über den Schmausenden, im Giebeldreieck strecken die beiden großen gefleckten Leoparden ihre Zunge heraus und heben eine Tatze; zu beiden Seiten steht ein Bäumchen. Das sind die Leoparden oder Panther des unterweltlichen Bacchus, die die Aus- und Eingänge

der Lebenslust bewachen.“



„Ein sehr reizvolles Tanzgrab ist die Tomba del Triclino oder del Convito, was beides Grab des Festmahls bedeutet.“


„Der Streifen mit den tanzenden Gestalten, der sich um den Raum herumzieht, ist immer noch hell und frisch in den Farben; die Frauen tragen dünne getüpfelte Kleider aus leinenem Musselin und bunte Mäntel mit zarten Rändern, die Männer haben nur eine Schärpe. Wild wirft die Bacchantin ihren Kopf zurück und krümmt ihren langen, kräftigen Finger, wild und doch selbstbeherrscht, während sich der stämmige junge Mann zu ihr wendet und seine tanzende Hand zu der ihren emporhebt, bis sich die Daumen nahezu berühren. Sie tanzen im Freien an kleinen Bäumen vorüber, Vögel laufen umher, und ein kleiner fuchsschwänziger Hund beobachtet etwas mit der naiven Eindringlichkeit der Jugend.“


Archäologisches Nationalmuseum in Tarquinia © Bild: Wikimedia Commons.


„Im Grab der Bacchanti sind die Farben fast verblichen. Aber noch sehen wir auf der hinteren Wand einen seltsam nachdenklichen Tänzer mit seiner Zither aus den Nebeln der Zeit auftauchen, und hinter ihm, hinter dem Bäumchen, einen Mann aus der dunklen antiken Welt, einen Mann mit einem kurzen Bart, kräftig und von geheimnisvoller Männlichkeit, der nach einem wilden archaischen Mädchen greift; sie ihrerseits wirft ihre Hände hoch und kehrt ihm ihr erregtes, feines Gesicht zu.“


„Es ist köstlich, welche Kraft und welches Mysterium des antiken Lebens aus diesen verblassten Figuren zum Vorschein kommt. Die Etrusker sind immer noch gegenwärtig auf dieser Wand.“


„In der Tomba dei Vasi dipinti, dem Grab der bemalten Vasen, sieht man große bemalte Amphoren auf der Seitenwand, und auf sie zu springt ein unheimlicher Tänzer, die Enden seines Leintuchs flattern hinter ihm her. Auf der hinteren Wand ist eine friedliche kleine Bankettszene dargestellt, auf der der bärtige Mann die Frau neben ihm sanft ans Kinn fasst, ein junger Sklave steht kindlich dahinter, und unter dem Ruhebett sitzt ein wachsamer Hund.“


„Sehr sanft und liebevoll ist die Art, wie er die Frau mit einer zarten Liebkosung unter das Kinn fasst. Wiederum zeigt sich hier einer der besonderen Reize etruskischer Malerei: Sie hat wahrhaftig einen Sinn für Verbundenheit, die Menschen und Geschöpfe stehen wirklich in Beziehung zueinander.“


„In dieser verblassten etruskischen Malerei spürt man .. den stillen Fluss einer Verbundenheit, der den Mann und die Frau auf dem Ruhebett, den schüchternen Knaben hinter ihnen, den Hund, der seine Nase hebt, und sogar die von der Wand herabhängenden Girlanden miteinander vereint.“


Necropoli dei Monterozzi in Tarquinia   © Bild: Wikimedia Commons

Volterra


„Seltsame, dunkle, alte etruskische Köpfe des Stadttors! Selbst jetzt, da ihre Konturen verwischt sind, geht von ihnen ein besonderes, in die Ferne greifendes Leben aus. Ducati sagt, sie stellten die Köpfe erschlagener Feinde dar, die am Stadttor aufgehängt worden seien. Doch sie hängen nicht. Sie strecken sich mit sonderbarem Eifer nach vorn. Dass es sich um abgeschlagene Köpfe handeln soll, ist Unsinn. Es sind irgendwelche Stadtgottheiten.“


„Und die Archäologen sagen, nur die Eckpfeiler des äußeren Torbogens und die Innenmauern gingen auf die Etrusker zurück.“



“Doch für uns bleibt es ein etruskisches Tor. Seine Fundamente und die dunklen Köpfe muss man den Etruskern jedenfalls lassen. Und die Köpfe halten immer noch Wache.”


BILDNACHWEIS:

Share by: